Gamen für die Wissenschaft

September 2023

Bis zu 10 Stunden verbringt Mike Falkner täglich hinter dem Bildschirm. Was eigentlich nicht gesund sein kann, verbessert das Gedächtnis und die Feinmotorik. Doch erst einmal der Reihe nach…

Wie kommt ein gebürtiger Neuseeländer, der Game-Design studiert und einige Jahre in der Filmindustrie gearbeitet hat, dazu, ein Teil von Forschungsteams am ARTORG Center und den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) zu sein? «Videospiele haben einen grossen Reiz auf die meisten Menschen. Doch sie werden hauptsächlich zum Spass genutzt. Diesen möchte ich dazu nutzen, um etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun», sagt der 32-Jährige.

Als ich Mike zum ersten Mal in seinem Büro an der Murtenstrasse 50 treffe, ist er von einer stattlichen Anzahl kleinerer und grösserer Bildschirme umgeben. Doch ein stereotypisch introvertierter Nerd scheint er mir nicht zu sein. Stolz präsentiert er mir einen kleinen Drachen-Avatar, der als Navigation durch verschiedene Level eines Motorikspiels auf einem Tablet dient. Für eine andere Anwendung hat er ganze 16 verschiedene Gedächtnistrainings zum semantischen, räumlichen, episodischen und Arbeitsgedächtnis entwickelt.

Ich mag es, Videospiele zu entwickeln, die nicht nur Spass machen, sondern auch etwas Nützliches tun.

Im Gegensatz zu vielen heute schon verfügbaren Gedächtnistrainings-Apps basiert der grosse kognitive Spielesatz, den ich ausprobieren darf, auf solider neurowissenschaftlicher Forschung. «Es gibt auf dem Markt zwar bereits vereinzelte wirklich hochwertige Spiele, die etwa Biomarker für Alzheimer aufspüren und so einen Beitrag zur Bekämpfung dieser Krankheit leisten – doch die meisten sind kommerziell motiviert.»

«Es ist toll, die Spieleentwicklung von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus zu betreiben!», verrät Mike, der die Gedächtnisspiele gemeinsam mit Esther Brill, Doktorandin an der Alterspsychiatrie der UPD, entwickelt hat. Aktuell arbeitet er an fünf Gamedesign-Projekten, die meisten im Bereich kognitive Trainings: «Drei für Tablets, eines für den Computer und eines für Smartphones.»

Zusammen mit Esther Brill, Doktorandin in der Alterspsychiatrie der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD), hat Mike Falkner 16 verschiedene Gedächtnistrainings für das semantische, räumliche, episodische und Arbeitsgedächtnis auf einem Tablet entwickelt. (© CAIM, Universität Bern)

Von C wie „Controller“ bis Z wie „Zoo“

Am Nebentisch sitzt Nic Krummenacher, der seine Dissertation an der Forschungsgruppe 'Gerontechnologie und Rehabilitation' des ARTORG Center schreibt. Mit ihm arbeitet Mike an einer Smartphone-App zur Verbesserung der Feinmotorik bei Parkinson. Die Bedienung erfolgt mit einem eigens dafür entwickelten Silikon-Ei, in das Nic kleinste Drucksensoren eingebaut hat. «In der aktuellen Version des Silikon-Eis, das als Controller dient, sind vier Sensoren eingebaut», so Nic. «Diese sollen uns Aufschluss darüber geben, welche Finger der jeweiligen Patientin oder dem Patienten die meiste Mühe bereiten», erklärt Nic.

Mit Nic Krummenacher arbeitet er an Handbewegungstrainingsspielen auf dem Smartphone, kombiniert mit einem Silikon-Ei mit eingebauten Sensoren als Controller. (© CAIM, Universität Bern)

Ich darf den Prototyp der Motorik-Trainings-App testen und finde schnell heraus: In drei der vier Spiele braucht es nur ganz kleine Bewegungen aus dem Handgelenk, damit eine geometrische Form in der richtigen Richtung im 'Tetris' landet oder meine Kugel im Labyrinth nicht sofort in einer der vielen Löcher im Boden verschwindet. «Wir haben uns bewusst für diese empfindliche Navigation entschieden, da bei beginnendem Parkinson meist grosse Bewegungen noch gut funktionieren, kleine gezielte aber nicht mehr so gut kontrolliert werden», erklärt Nic.

Nach mehr oder minder erfolgreichen Versuchen in der Motorik-App wende ich mich lieber wieder dem Hirntraining auf dem iPad zu. Hier kommt so schnell keine Langeweile auf: Nutzende können wählen, ob sie lieber einkaufen, auf Safari oder auf Schatzsuche gehen, lieber mit anderen an einer Quizzshow teilnehmen, Kreuzworträtsel lösen oder sich in einer drehenden Matrix orientieren wollen. Mit den vielen Tieren muten die Spiele fast schon wie ein Zoobesuch an, denke ich als ich im Garten Kaninchen suche und im Wald Bären fotografiere.

Spieleübersicht der Gedächtnistraining-Games. (© ARTORG Center, Universität Bern)

Der tägliche Challenge

Warum das alles kognitiv grossen Sinn macht, erklärt mir Esther: «Wir haben diese Trainings für ältere Erwachsene entwickelt, bei denen ein Demenzrisiko besteht oder die bereits damit diagnostiziert sind. Unser Ziel ist, mit diesen 'Serious Games' den kognitiven Abbau möglichst hinauszuzögern oder abzuschwächen.»

Wenn man aktuellen Erhebungen glaubt, werden Computerspiele über 50 immer beliebter – und zwar längst nicht mehr nur Sudoku, Mahjong oder Solitär. Für viele ist das Setzen kleiner erreichbarer täglicher Ziele in den Spielen, zusammen mit dem Unterhaltungsfaktor ein guter Anreiz, am Ball zu bleiben. Doch natürlich haben die Spiele auch selbst Mechanismen, um die Nutzer zu binden, weiss Mike: «In meinem Studium habe ich das Rüstzeug für diese sogenannte Spielmechanik erhalten. Diese kommen in jedem Videospiel vor und sind wichtig für das Spielerlebnis.»

Orientierungsspiel, bei dem man sich Orte merken und Schlüssel finden muss. (© ARTORG Center, Universität Bern)

Alles, was zur Verbesserung der kognitiven oder motorischen Fähigkeiten beiträgt, sollte man in seine Routinen und Gewohnheiten einbeziehen.

Mike scheint diese Mechaniken geschickt für seine Games einzusetzen: «Wir haben aus der klinischen Studie viele positive Rückmeldungen erhalten, auf die ich sehr stolz bin. Die Patient:innen haben am Ende oft gefragt, ob sie die Spiele selbst herunterladen und weiterspielen können. Es war aussergewöhnlich, wie diszipliniert alle pro Tag 24 Minuten lang gespielt haben. Und das, ohne dass wir sie daran erinnern mussten.» «Viele Patientinnen und Patienten berichteten während des mehrmonatigen Trainings auch, dass sie subjektiv eine Verbesserung ihrer Lebensqualität und Kognition spüren», ergänzt Esther.

Von der Grünen Insel an die Aare und hinaus in die Welt?

Auch ausserhalb des Forschungsalltags hat sich Mike in seiner neuen Wahlheimat Bern eingelebt. Für sein 'Digital Wellbeing' fährt er mit dem Mountainbike gerne durch Bremgarten. «Ich hatte schon davon gehört, Spiele mit einem Nutzen für die Gesundheit zu entwickeln, mir aber nicht träumen lassen, dass man in diesem Beruf Vollzeit arbeiten kann. Ich mag das akademische Umfeld. Mir gefällt, dass wir experimentieren können - dass wir Dinge erforschen und testen können», sagt Mike, der durch den Tipp eines Freundes auf die Stellenausschreibung am ARTORG stiess.

Unterdessen stossen seine Spiele auch jenseits der Uni Bern auf Interesse. So arbeitet er in Forschungsprojekten mit der ETH Zürich sowie Universitäten in England und Frankreich zusammen, die teilweise die Spiele für ihre Forschung verwenden und teilweise eigene Spielideen haben, die sie gerne umsetzen würden.

Wird die Berner Spielesammlung also zum Exportschlager? «Ich fände es toll, wenn diese Spiele das Labor verlassen und ihren Zweck erfüllen würden. Alles, was zur Verbesserung der kognitiven oder motorischen Fähigkeiten beiträgt, sollte man in seine Routinen und Gewohnheiten einbeziehen.»

Vorerst bin ich etwas enttäuscht, das Tablet mit den 16 Spielen wieder abgeben zu müssen. Auch wenn ich (hoffentlich) noch keine Anzeichen von Demenz aufweise, würde ich gerne noch ein wenig damit weitergamen.

Mike Falkner studierte Software-Engineering mit dem Schwerpunkt Videospiele und absolvierte eine Mediendesign-Schule in seiner Heimat Neuseeland. Nach seinem Studium arbeitete er mehrere Jahre in der Filmindustrie, begleitet von Auftragsdesigns für Firmen-Event-Filme und Gaming-Technologie-Rollen sowie Projekten mit CGI-Echtzeitgrafiken.

Mit seinem Hintergrund in Software-Engineering, Spieleentwicklung und der Filmindustrie hat Mike nun grosses Interesse daran, neue Wege zu finden, um die Kluft zwischen Spass und Nutzen mit Serious Games und Game-Engine-Technologie zu überbrücken. Seine derzeitige Arbeit konzentriert sich auf kognitive Trainingsspiele (zur Bekämpfung früher Demenz), aber auch auf Spiele, die bei Multipler Sklerose und Parkinson eingesetzt werden können.