«Wir dürfen den Menschen nicht aus dem Mittelpunkt drängen»

Claudio Bassetti, Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Bern, spricht im Interview über die Chancen und Herausforderungen der digitalisierten Medizin – und welche Lehren aus der Corona-Pandemie für die Medizin der Zukunft gezogen werden können.

In ihrer Strategie 2030 räumt die Medizinische Fakultät der Digitalisierung einen prioritären Stellenwert ein. Warum?
Die Universität hat Digitalisierung und Künstliche Intelligenz als eine Priorität vorgesehen. Für die Medizinische Fakultät ist dies umso relevanter, weil die Medizin sehr stark von der Digitalisierung beeinflusst wird. Es gibt so viele Bereiche, die sich nun verändern – von der medizinischen Betreuung der Patientinnen und Patienten bei akuten und bei chronischen Erkrankungen über die Planung und Ausführung komplexer operativer Eingriffe und das elektronische Patientendossier bis hin zur Lehre, Forschung und selbst administrativen Aspekten in der Gesundheitsversorgung. All diese Bereiche werden von der Digitalisierung beschleunigt.

Dabei ist die Gründung des Center for Artificial Intelligence in Medicine CAIM an der Medizinischen Fakultät als spezialisiertes Zentrum zu KI-Anwendungen für das Gesundheitswesen eine klare Stellungnahme, diese Entwicklung gestalten und fördern zu wollen.

Wie wird die Medizin durch die Digitalisierung verändert?
Die Corona-Pandemie hat uns die Bedeutung der Digitalisierung in der Medizin noch stärker bewusst gemacht: Wir müssen digitale Möglichkeiten noch stärker nutzen, etwa indem wir Telekonsultationen ermöglichen, also eine medizinische Versorgung nicht mehr nur über physische Präsenz.

Auch das Telemonitoring wurde durch Corona sehr stark gefördert, also die Möglichkeit, Patientinnen und Patienten auf Distanz zu begleiten. Das kann die Messungen von Herzrhythmus, Temperatur, Atem und Sauerstoffsättigung, aber auch von Schlafstörungen beinhalten. Hier haben wir über die Pandemie gelernt, dass wir Verschlechterungen beispielsweise auch schon früh erkennen können, wenn erkrankte Personen noch zu Hause sind – und nicht erst im Spital.

Ausserdem erfolgt jetzt – auch noch befördert durch die Pandemie – ein grosser Anteil der medizinischen Lehre über digitale Medien. Wir müssen uns zunehmend daran gewöhnen, dass einige Lehrinhalte vielleicht besser auf diese Weise vermittelt werden können als in einer klassischen Hörsaal-Situation.

KI kann unterstützen, grosse Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen zu vereinen und zu analysieren. Das ist wichtig in der Präzisionsmedizin, um Patientinnen und Patienten die jeweils beste Therapie bieten zu können.

Wo sehen Sie die Rolle von KI in diesem Wandel?
Digitalisierung bedeutet auch, viele Daten integrieren und evaluieren zu können. Hier kann Künstliche Intelligenz unterstützen, grosse Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen wie Labordaten, medizinische Bildgebung, genetische Abklärungen, Gewebeproben aus Biobanken zu vereinen und auch im Hinblick auf mehrere Variablen zu analysieren. Das ist zum Beispiel wichtig in der Präzisionsmedizin, um Patientinnen und Patienten die jeweils beste Therapie bieten zu können..

Zunehmend möchten wir alle diese Daten zusammen betrachten, um Gesundheit und Krankheit besser verstehen zu können. Und für dieses Zusammentragen von Multisource-Daten – allgemein auch als Big Data bezeichnet – braucht es neue Ansätze der Analyse, die mit dem Begriff Künstliche Intelligenz zusammengefasst werden.

Wo können KI-basierte Technologien die Patientenversorgung verbessern?
Lassen Sie mich ein Beispiel aus meinem Fachbereich, der Neurologie, geben, das gerade hohe Aktualität hat: Diesen Herbst haben wir das NeuroTec eingeweiht, eine Plattform zu Erforschung und Entwicklung neuer, flexibler und kosteneffizienter Technologien zur Verbesserung der Diagnostik, Überwachung und Therapie neurologischer Erkrankungen. Wir arbeiten dort besonders an den Bereichen Motorik (Parkinson, Epilepsie), Schlafstörungen und Kognition (Demenz, Alzheimer).

Das Ziel ist, Patientinnen und Patienten über längere Zeit auch zu Hause monitorisieren zu können, etwa durch die Messung von Vitaldaten mit sogenannten «Wearables», am Körper getragenen Sensoren, oder «Nearables» – in der Wohnumgebung installierten nichtinvasiven Sensoren.

Das NeuroTec ist bewusst an der Schnittstelle von Medizin, Digitalisierung und KI geschaffen worden: Wir möchten diese Transformation leben und aktiv gestalten. Dafür brauchen wir Digitalisierungs- und Datenverarbeitungs-Methoden wie die Künstliche Intelligenz. Daher haben wir eine Professorin, Frau Prof. Athina Tzovara, im Rahmen einer Interfakultären Forschungskooperation angestellt, die diese KI-Aspekte erarbeiten wird.

Wie wichtig ist da die Interdisziplinarität?
Sehr wichtig! Wir brauchen Medizinerinnen für das Krankheitsverständnis, Ingenieure für Entwicklung von Nearables und deren Auswertungsmöglichkeiten, Physikerinnen, Mathematiker, IT-Spezialistinnen und Spezialisten und Industriepartner. Hier sind wir in Bern sehr gut aufgestellt: Eines unserer Aushängeschilder an der Universität und dem Universitätsspital ist die Translationalität, also das Übertragen von Forschungsergebnissen in die Praxis. Wir sind unter anderem deswegen stark darin, weil unsere Bioingenieure durch direkte Integration in die Medizinische Fakultät und ihre guten Beziehungen zur Berner MedTech Industrie sehr praxisnah arbeiten. Damit haben wir sehr gute Voraussetzungen, hier einen grossen Schritt in Richtung verbesserte Patientenversorgung zu machen.

Corona hat uns eben auch gezeigt, dass persönliche Interaktion, regelmässige Kontakte und physische Nähe so wichtig sind.

Welche Herausforderungen sehen Sie beim Einsatz von Digitalisierung und KI in der Medizin?
Ich glaube, auch wenn wir alle diese Methoden einsetzen, dürfen wir doch den Menschen nicht aus dem Mittelpunkt drängen. Corona hat uns eben auch gezeigt, dass persönliche Interaktionen, regelmässige Kontakte und physische Nähe so wichtig sind. In der Medizin können und wollen wir diesen menschlichen Austausch nicht mit Digitalisierung ersetzen. Dann ist natürlich die Vertraulichkeit der Daten entscheidend. Die Insel Gruppe hat im Zuge der Digitalisierung die entsprechenden Schutzmassnahmen getroffen, um die verstärkte Datenauswertung mittels KI sicher zu ermöglichen. Dies sind zwei Aspekte, die uns bewusst bleiben sollten.

Welche Vorteile ergeben sich für den Standort Bern in diesem Bereich?

Zum einen ergreifen wir die Möglichkeit, bei dieser wichtigen Transformation in enger Interaktion mit der Gesellschaft, Politik und Industrie mitzuwirken. Zum anderen bietet sich für uns die Chance, talentierte Forschende anzuziehen. So hat sich die Universität durch das Schaffen und Besetzen mehrerer Professuren, die mit Biomedizin, Digitalisierung und KI assoziiert sind, klar dazu bekannt, in diesen Bereich zu investieren.
Bern als ganzheitliche Universität setzt darauf, hier auch vermehrt interfakultär zusammen zu arbeiten. Die Medizinische Fakultät hat daher mehrere gemeinsame Projekte mit der Naturwissenschaftlichen Fakultät gestartet. Und auch der Schulterschluss mit dem Universitätsspital ist selbstverständlich essenziell.

Solche Kooperationen über Fächergrenzen hinweg sind erfolgsentscheidend. Denn Innovation entsteht dort, wo man über den Tellerrand des eigenen Fachgebiets hinausschaut. Nicht zuletzt hat uns Corona gezeigt: Nicht die Wissenschaft allein, sondern der Verbund mit der Politik, von Fachwissen mit praktischer Entscheidungsgewalt ist nötig, um gemeinsam Herausforderungen zu lösen.